Letzte Chance für den Nikolaus

Die Geschäfte sind hart geworden - auch für den Nikolaus. Aber das Schönste an Weihnachten ist doch, dass man Herzenswärme und Liebe gerade dort antrifft, wo man sie am wenigsten vermutet.

 

Letzte Chance für den Nikolaus

„Mama, Konstantin lässt mich nicht in Ruhe!“ Lea hüpfte kreischend durchs Wohnzimmer, ihr Zwillingsbruder versuchte, sie mit der Gießkanne zu überschütten.

„Wollt ihr wohl damit aufhören!“ rief Mutter. „Warum müsst ihr immer so böse sein?“. Aber Lea und Konstantin waren nicht böse. Zumindest nicht von Grund auf. Wild, ja das waren sie. Über alle Maßen wild sogar, aber nicht böse. „Eure Kinder sind antizyklisch“ meinte Tante Ramona, die gerade für ihr Staatsexamen büffelte. Sie wollte damit wohl ausdrücken, dass Lea und Konstantin immer dann ruhig waren, wenn sie etwas sagen sollten und immer dann Krach machten, wenn es alle anderen gerne still und besinnlich hatten -  wie etwa zur Weihnachtszeit. Zwischen Januar und November nahm es ihr Vater meist wortlos hin, wenn er mit gerunzelter Stirn die Scheine aus dem Geldbeutel zählen musste, während wieder mal ein Nachbar mit ausgestreckter Hand und mit „jaja, die Kinder“ Verständnis heuchelte. Aber im Advent bestand Mutter darauf, dass sich alle – auch Lea und Konstantin – auf das Fest der Liebe und nicht auf den nächsten Weltuntergang vorbereiteten. Und dazu gehörte eben auch, dass am Vorabend des 6. Dezember St. Nikolaus die Kinder besuchte. Anfangs hatte noch Vater die Rolle des  heiligen Mannes übernommen, bis zu dem Abend, an dem Lea erschrocken vor so viel Autorität nach hinten sprang und den neuen Fernseher von Papa, den mit dem extra großen Bildschirm, vom Sockel riss. Dass der Nikolaus mit einem verzweifelten „nein, nicht auch noch der Fernseher“ in den Trümmern von Papas Feiertagsplanung kniete, kam den Zwillingen sofort verdächtig vor – wo doch eine Instanz wie der Nikolaus froh darüber sein müsste, wenn Kinder nicht so viel fern sahen.

Ein Jahr darauf engagierte Mutter Herrn Haberland, den netten älteren Herrn vom Ende der Straße.  Misstrauisch geworden durch Papas Enttarnung vom Vorjahr zog Konstantin am Bart vom Nikolaus – nicht ahnend, dass Herr Haberland einen echten weißen Bart trug. Herr Haberland berichtete seitdem mit viel Engagement, dass er an der Stelle, wo ihm Konstantin den Büschel Haare herausgerissen hatte, bei jedem Wetterwechsel ein leichtes Bitzeln  verspürte.

Auch von der professionellen Weihnachtsmannvermittlungsstelle war zwei Jahre lang niemand mehr bereit, die berüchtigten Zwillinge zu beschenken. Man habe schließlich eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Mitarbeiter, hieß von dort. Und so war die einzige Folge des letzten Besuchs eines gemieteten Weihnachtsmannes, dass die Nachbarn nun jedes Jahr ihre Autos vorsorglich am 5. Dezember in die Garagen stellen, um die Zufahrt für den Rettungswagen freizuhalten.

Doch dieses Jahr musste der Nikolaus einfach noch einmal kommen. Lea und Konstantin wuchsen langsam aus dem Alter heraus, in dem man sie mit einem wuchtigen Klopfen an der Haustür und einem tiefen „Hohoho!“ beeindrucken konnte. Mutter hatte also nicht mehr viele Gelegenheiten, ihren Kindern den Zauber der Weihnacht nahe zu bringen. Sie war deshalb auch besonders hartnäckig und lies sich am Telefon nicht abwimmeln – dieses eine Jahr musste ein Nikolaus her, koste es, was es wolle.

Konstantin kniete auf Leas Rücken und drückte ihr Gesicht in die kleine Pfütze, die noch vom Gießkannenattentat auf dem Teppich übrig war. „Das nimmst du sofort zurück“ „Vergiss es“,  keuchte Lea. „Du hast einen Kopf wie eine Scheune – außen Holz und innen Stroh!“ „Und Du hast einen Kopf wie eine Kläranlage – außen Beton und innen…“  „Konstantin!“ schimpfte Mutter. „Ich will solche Worte hier nicht hören! Jetzt setzt euch aufs Sofa und gebt zur Abwechslung einmal Ruhe, es hat geklingelt“.  Mutter öffnete die Tür. Vom Wohnzimmer aus sahen die Zwillinge den Nikolaus. Er stand an der Gartentüre im Schnee. Mutter winkte ihn herein. Der Nikolaus schüttelte heftig den Kopf und blieb stehen. Mutter winkte wieder, der Nikolaus schüttelte nur den Kopf. „Los Kinder, sofort aufs Sofa!“ Vater hatte sich schützend vor seinen Fernseher gestellt und deckte den Bildschirm mit seinen Armen ab. Mutter schob einen dürren Nikolaus ins Zimmer, der fast gänzlich in dem viel zu großen Mantel verschwand. „Gut“, sie klatschte in die Hände. „Fangen wir an“. Der heilige Mann zog mit zittrigen Fingern einen Zettel aus der Tasche und las langsam und in gebrochenem Deutsch den Text vor, den so oder so ähnlich an diesem Abend unzählige Nikoläuse vor unzähligen Kindern vorlasen. Nur dass wohl eben die anderen Kinder warteten, bis der Nikolaus fertig war. „Cool!“ rief Konstantin, nachdem er dem Nikolaus den Geschenkesack aus der Hand gerissen und durchwühlt hatte. „Ein Fußball!“ „Im Zimmer wird nicht gespielt!“ rief seine Mutter noch, doch da schoss der Ball schon zwischen die Blumentöpfe und fegte den Hamsterkäfig so heftig von der Fensterbank, dass sich beim Aufschlag auf den Boden  der Verschluss öffnete und der Hamster panisch die Flucht ergriff. „Darth Vader, bleib hier“, rief Konstantin. Aber das geplagte Tierchen hatte schon Schutz hinter dem Wohnzimmerschrank gesucht. „Moment, ich weiß, wie wir ihn da wieder raus bekommen.“ Lea nahm den Ball und kickte ihn gegen den Schrank, Darth Vader huschte über den Teppich, der Ball prallte zurück und traf den Nikolaus so unglücklich am Kopf, dass der heilige Mann flach wie ein Brett nach hinten umfiel. „Hab ihn!“ Lea und Konstantin lagen auf dem Bauch und hielten den Hamster mit ihren vier Händen fest. Sie grinsten sich an. Dann schauten sie auf die Füße vom Nikolaus, der vorsichtig den Kopf hob, und plötzlich wurden die Zwillinge ganz still. Der Nikolaus hatte keine Stiefel an, sondern schmutzige und abgetragene Schuhe. Die rechte Sohle hatte sich schon zur Hälfte gelöst und gab den Blick frei auf ein paar bemerkenswert große Löcher in den Strümpfen – wobei es eigentlich gar keine richtigen Strümpfe sein konnten, denn sie reichten nur bis zum Knöchel, so wie die Dinger, die Mutter im Sommer immer trug. Aber es war kein Sommer. Draußen war es bitterkalt und es lag Schnee. Mutter half dem stöhnenden Nikolaus wieder auf die Beine und begleitete ihn mit aufmunternden Worten, wonach es noch viel schlimmer hätte kommen können, zur Haustür. Vater hatte seinen strategisch wichtigen Posten vor dem Fernseher verlassen und eilte mit dem Geldbeutel hinter den beiden her, er wäre sehr zufrieden, würde sich bei der Agentur für diesen gelungenen Auftritt bedanken und was dieses kleine Missgeschick betrifft, vielleicht könnte ja ein angemessenes Trinkgeld, na ja, sie wissen schon.

„Herr Nikolaus!“ Die Zwillinge waren kurz in ihren Zimmern verschwunden und dann unbemerkt bis zur Haustüre geschlichen. Jetzt drückte Lea dem verdutzten Mann ihre gebastelte Kerze mit dem Tannenzweig, die sie eigentlich an Weihnachten ihren Eltern schenken wollte, in die Hand. Konstantin überreichte sein Fußballbilderalbum, für das er den ganzen Sommer gesammelt und getauscht hatte. „Frieden auf Erden“, dann drehten sie sich um und rannten zurück ins Wohnzimmer. Mutter konnte Vater eine ganze Weile nur mit  offenem Mund und hochgezogenen Schultern anstarren. Im Wohnzimmer knieten Lea und Konstantin auf dem Sofa und blickten aus dem Fenster. Der Nikolaus war durch den Schnee unter eine Laterne gestapft und schaute sich hier die Kerze und das Album an. Es schien ihn nicht zu stören, dass es angefangen hatte zu schneien. Immer wieder drehte er die Kerze in der Hand und blätterte anschließend in dem Fußballheft. „Ihm gefallen die Sammelbilder am besten, ganz klar“, meinte Konstantin. „Blödsinn“, erwiderte Lea. „Er mag, was ich für ihn gebastelt habe“. Konstantin schüttelte den Kopf. „Du bist und bleibst eine Kläranlage“. „Scheunenkopf“, grinste Lea. Sie hatte sich hinter dem Rücken ihres Bruders die Gießkanne gegriffen und tröpfelte nun Wasser in Konstantins Hosenbund.