Paul hebt ab

Der Oberst trat einen Schritt zur Seite und deutete auf die erste Bankreihe; „Setz dich.“ Mit Blick auf den spärlich beleuchteten Altar ließen sich Paul und der Oberst nieder und saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Einer der beiden Männer, die den Haupteingang der Kirche gesichert hatten, stellte sich in der zweiten Bankreihe mit verschränkten Armen hinter Paul. Der Oberst unterbrach die Stille: „Denk daran, ein guter Pilot macht viele Fehler, ein schlechter nur einen.“ Paul sah den Oberst von der Seite an. „Es liegt doch auf der Hand“, erklärte dieser. „Wenn du lange genug am Leben bleibst, um viele Fehler zu machen, dann kannst du so schlecht nicht sein.“

Covergestaltung: Athene Media, 46535 Dinslaken

Foto: Detlef Scheiber

Paul hebt ab erscheint im Athene Media Verlag

266 Seiten, Broschur, €14,98

ISBN 978-3-86992-087-0

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Inhalt:

Ohne Zweifel ist Paul mit seinen zehn Jahren der ungewöhnlichste Pilot der Welt. Sein Großvater, zu Lebzeiten ein echter Haudegen, hatte ihm einst einen altersschwachen Doppeldecker hinterlassen, und so kann sich der kleine Junge nun in einer Welt voller Regeln und falscher Erwartungen seinen Wunsch nach Freiheit und Abenteuer erfüllen. Pauls Eltern schenken jedoch den Erzählungen ihres Sohnes keinen Glauben – natürlich. Denn zu unerhört ist die Vorstellung, dass ihr Kind selbst die schwierigsten Flugmanöver beherrscht. Und so ist Paul anfangs auf die Hilfe seiner draufgängerischen Freundin Gülcan angewiesen, als immer mehr undurchsichtige Gestalten um ihn herum auftauchen. Scheinbar besitzt Paul ohne sein Wissen etwas, das ihm diese Männer abjagen wollen. Die Schatten aus Großvaters Vergangenheit leben wieder auf, nachdem Pauls Vater unfreiwillig das besondere Talent seines Jungen entdeckt hat und die beiden an eine entlegene Hütte in den Bergen verschlagen werden. Dort gerät Paul zwischen die Fronten von zwei rivalisierenden Schmugglerbanden, die auf der Suche nach einer gefährlichen gläsernen Truhe sind. Paul erlebt, wie aus Feinden Freunde werden und wie er sich ausgerechnet auf die Menschen am meisten verlassen kann, vor denen er sein Geheimnis am sichersten verborgen hat.

Leseprobe:

Senkrecht gegen den Wind stieg die Lerche in den Himmel und sang dabei ihr Lied.

Die schwere Julihitze erdrückte ansonsten jeden Laut über den flimmernden Feldern. Nur ein träger Windhauch strich über die wenigen dürren Sträucher, die Wache über ein ausgetrocknetes Land hielten. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt erreicht, lange vorbei die Zeiten, in denen jeder Sonnenstrahl noch mit einem Lachen begrüßt wurde.

Gewaltig türmten sich nun die ersten Wolkenberge auf, deren überquellendes Weiß an den Rändern bereits in ein bedrohliches, schmutziges Grau übergegangen war.

Wohl gegen Abend würde das lange erwartete Gewitter losbrechen, aber noch hatte die Lerche den Himmel für sich.

Am Boden musste sie im Verborgenen leben und sich in den niedrigen Büschen verstecken, aber in der Luft war sie frei. Hier sang sie ihr Lied ohne Pause, eine verspielte, heitere Melodie. Unbeschwert ging eine Strophe in die nächste über, in vollkommener Reinheit erklang das Trällern, wurde lang anhaltend, unnatürlich gezogen, beinahe schrill. Jetzt wie eine Sirene, durchdringend und laut, ein hässliches Heulen, übertönt nur von kurzen Explosionen.

Ein schmutziger, verrußter Streifen durchzog die Wolken.

Aus einer Lücke zwischen den weißgrauen Massen schoss kurz ein alter Doppeldecker, um sofort wieder in die dichten Schleier einzutauchen.

Der Pilot kämpfte mit der Maschine, die immer schneller an Höhe verlor.

Schwarzer Qualm zog über das offene Cockpit und setzte sich auf der ölverschmierten Fliegerbrille und der ledernen Sturmhaube ab.

Auf die gläsernen Armaturen mit ihren wild kreisenden Zeigern schlug unruhig eine goldene Taschenuhr.

In kürzer werdenden Abständen gab der rauchende Motor beunruhigende Schläge von sich, hielt sich aber noch am Laufen. Flammen zuckten aus den grob vernieteten Blechabdeckungen.

Beim Austritt aus der untersten Wolkenschicht lichtete sich der Schleier und öffnete dem Piloten einen Blick über weite Felder, die bewaldeten Ausläufer des Gebirges und dahinter den großen See, der in der Sonne glitzerte.

Die Strecke über den See bis zur Landebahn an der alten Scheune würde das Flugzeug diesmal wohl nicht mehr schaffen, aber auf dieser Seite der Bergkette war keine Möglichkeit zur Landung auszumachen.

Etwas abseits standen drei Heißluftballons in der Luft und warteten auf das Auffrischen des Windes.

Auch auf die Gefahr hin, langsamer zu werden und dann wie ein Stein vom Himmel zu fallen, brachte der Pilot den Doppeldecker in Schräglage und zog in einer engen Schleife dicht an den drei Ballons vorbei, eine schwarze Spur aus Rauch hinter sich herziehend.

Beim Anblick des alten Doppeldeckers in Luftnot reagierten die Passagiere in den Körben sofort – sie zückten ihre kleinen Kameras und entfachten ein wahres Blitzlichtgewitter.

Das unruhige Knattern des Motors übertönend schrie der Pilot herüber: „Hey, hallo ihr da!“

Die Ballonfahrer ließen mit offenen Mündern ihre Kameras sinken, rief doch der Pilot aus dem kreisenden Doppeldecker mit der Stimme eines vielleicht zehnjährigen Jungen. „Hallo, ihr da drüben, gibt es hier in der Nähe einen Landeplatz?“

Ein Mann mit Glatze und Schnurrbart fand als Erster wieder aus seiner Verwunderung heraus: „Einen Landeplatz? Zum Landen?“

„Nein, zum Platzen!“, brüllte der Junge. „Wer hat euch denn hier hoch gelassen? Ach, vergesst es!“

Er schwang seine Maschine herum und steuerte auf die nahe gelegene Hügelkette zu, die sich um die Ostseite des Sees zog. Hier dürfte er genügend Auftrieb haben, um den Doppeldecker noch eine Weile in der Luft zu halten.

Der Junge schaltete schnell den brennenden Motor ab, bevor er ihm um die Ohren fliegen musste. Schlapp drehte sich der Rotor noch wenige Male, dann war nur ein unangenehmes Pfeifen zu hören.

Die Aufwinde am Berghang hielten das Flugzeug tatsächlich noch etwas in der Höhe. Dort, wo die Hügelkette abflachte, zog der Junge die Maschine im Gleitflug in einem langen Bogen um den See herum, weil er die kälteren Luftmassen über dem Wasser fürchtete.

Die Stadt schon im Blick, an deren Rand das Gehöft mit der alten Scheune und dem versteckten Landeplatz lag, steuerte der ungewöhnliche Pilot den Doppeldecker unter eine Wolke, weil er dort noch einen kurzen Auftrieb bekommen konnte.

Er wischte sich schnell über die verschmierte Fliegerbrille.

Schon oft hatte er sich bei seinen Flügen in gefährlichen Situationen befunden.

Aber noch nie zuvor war es so wichtig gewesen wie heute, die Ratschläge seines Großvaters bis ins kleinste Detail zu befolgen.

Jetzt über die ausgetrockneten Felder, um die aufsteigende Warmluft auszunutzen.

Die Landebahn noch immer unerreichbar weit.

Sein Großvater.

Von ihm hatte er diesen altersschwachen Doppeldecker geerbt.

Was hätte dieser verwegene Flieger jetzt gemacht, mit wie viel Zuversicht hätte er wohl noch die Maschine steuern können?

„Wenn du das Schicksal auf deiner Seite hast, dann brauchst du kein Glück mehr“, hatte er oft zu seinem Enkel gesagt.

Der Junge stellte die Zündung an und drückte die Nase des Doppeldeckers nach unten. Im Sturzflug begann sich der Propeller zu drehen, der Motor krachte und rauchte, bis er wieder unruhig lief und genügend Fahrt für den Landeanflug brachte.

Die ersten Gärten zogen unter den Tragflächen vorbei, jetzt noch über die Baumgruppe, dahinter lag schon die Landebahn.

Wenn sich das Flugzeug doch nur am Steuerknüppel nach oben ziehen ließe!

Ab über die Baumspitzen, ein Schlag wie eine schallende Ohrfeige am Rumpf, ein Rütteln in der Maschine, dann schwankend auf die Landebahn zugehalten.

Kurz vor dem Aufsetzen gab der Motor endgültig seinen Geist auf, viel zu schnell für eine Landung schlug der Doppeldecker hart mit dem Fahrwerk auf, hob wieder ab und stellte sich in der Luft quer. Der Junge riss das Seitenruder herum und setzte das Flugzeug schlingernd wieder auf.

Im Ausrollen zog der Doppeldecker wenige Meter vor der Scheune eine enge Kurve und reckte seine Nase in den dunklen Rauch, der über der Landebahn und der Baumgruppe lag.

Kaum dass die Maschine stand, sprang der Junge heraus, rannte über die Wiese und zwängte sich durch das alte, längst in Vergessenheit geratene Tor in die Scheune. Hier musste er noch über die sperrigen Möbel seines Großvaters steigen und kurz die Fliegerbrille und die Sturmhaube in die morsche Standuhr werfen. Vorbei an Bergen von Gerümpel stolperte er durch den vorderen Bereich der Scheune und schlüpfte durch das große Holztor hinaus.

Ein schneller Blick über den Hof mit der alten Linde, dann setzte er sich keine Sekunde zu früh auf den Mauervorsprung des gewaltigen Fachwerkhauses.

Eben bog die Mutter auf ihrem Fahrrad in den Hof, vollgepackt mit Einkaufstaschen. „Hallo Paul, wie siehst du denn aus?“

Paul strich sich eine ölverschmierte schwarze Locke aus dem verrußten Gesicht. Er wusste, dass es sich mit seiner Mutter wie mit dem Kreiselkompass in seinem Cockpit verhielt – wenn er den korrekten Kurs ansteuerte, dann drehte der Kompass genau in die entgegengesetzte Richtung. „Ich wäre beinahe mit meinem Flugzeug abgestürzt“, rief Paul. „Aber ich habe gerade noch eine Notlandung hin bekommen.“

„Ach Paul“, schüttelte seine Mutter den Kopf. „Du wieder mit deinen Geschichten. Hast du Robert beim Mofareparieren geholfen? Du weißt doch, dass dieser Umgang nichts für dich ist.“

Sie lehnte ihr Fahrrad an die Linde und nahm die Taschen herunter.

Es machte jetzt keinen Sinn, etwas richtig zu stellen.

Mehr als die Wahrheit konnte Paul ohnehin nicht sagen.

Seine Mutter trug die Taschen ins Haus und nickte ihm zu.

Paul grinste und zog den Ärmel seiner Lederjacke über die blutverschmierte Hand.

Manchmal sind Eltern einfach noch nicht bereit für die ganze Wahrheit.