Die einsamen Diebe von Paris

 
Die Geschichte ist erschienen in der Anthologie Diebe im Literareon Verlag
ISBN-13: 978 3831614639
 
 
Cover: Literareon im Herbert Utz Verlag GmbH
 
 
Die einsamen Diebe von Paris 
 
Der Kaffee von Crettenand schmeckte nach Metall und Schweiß.
Und dieser Kaffee war die einzige Verbindung zwischen Ledoux und seinen Zellengenossen, die ansonsten nur prügeln und schweigen konnten.
Dabei reichte Crettenand seinen Kaffee allabendlich nicht aus reiner Freundlichkeit herum. Vielmehr demonstrierte er auf diese Weise seine Allmacht, selbst unter den unmöglichsten Bedingungen noch so etwas wie Lebensart schaffen zu können. Und die stumme Ewigkeit, bis der Kaffee endlich in dieser einen Blechtasse dampfte, hatte Ledoux zu dem Dieb gemacht, der er heute war.
Das Licht im Treppenhaus ging mit einem dumpfen Klacken an. Im Eingangsbereich des mehrgeschossigen Mietshauses wurde ein Fahrrad durch eine schlecht geölte Türe geschoben.
Ledoux schloss die Augen. Das Kribbeln in seinem linken Fuß war einem stechenden Schmerz gewichen, der sich nun langsam bis zum Knie ausbreitete. Aber Ledoux würde sich nicht bewegen. Eben das hatte er bei seinem letzten Aufenthalt im Gefängnis von Fleury-Merogis gelernt.
Dort hatte Crettenand jeden Abend mit seiner Gabel ohne Mittelzinken, dafür aber mit nur dürftiger Isolierung am Griff in einer Steckdose herumgestochert. Mit etwas Geschick wurde die verrußte Gabel so heiß, dass er sie als Tauchsieder für seinen verbotenen Kaffee nutzen konnte. Die übrigen Häftlinge in der engen Zelle waren in dieser Zeit gut beraten, still auf ihren Pritschen zu liegen. Ansonsten hätte der dünnhäutige Crettenand bei der geringsten Irritation dem Störenfried die Gabel in den Arm gerammt.
Die übel riechende Decke unter dem Kopf zusammengerollt und den fluchenden Crettenand an der Steckdose hatte Ledoux also genügend Zeit, seine bislang erfolglose Bilanz als Dieb zu überdenken.
„Sie sind mit Abstand das Jämmerlichste, was mir bislang begegnet ist“, hatte ihn der altehrwürdige Richter Bret anlässlich ihres letzten  Zusammentreffens vor Gericht zusammen geschrieen.
„Nicht einmal als Halunke taugen Sie noch etwas! Es bleibt zu hoffen, dass sie während ihrer nächsten Inhaftierung zur Vernunft kommen und etwas Richtiges lernen“.
Und das tat Ledoux.
Gerade in dem Augenblick, als sich Crettenand mit einem finalen Kurzschluss aus dieser Welt verabschiedet hatte und seine knapp 3000 Mithäftlinge im Fleury-Merogis kurz im Dunkeln sitzen ließ, kam Ledoux der rettende Einfall. Er wollte künftig nicht mehr andere Diebe nachahmen, sondern das tun, was er am Besten konnte – still warten und keinem Menschen nahe kommen.
 
Das Licht ging wieder aus. Dem trüben Morgen gelang es nicht, das Treppenhaus mit seinen kleinen Fenstern zu erhellen.
Es roch nach altem Holz und parfümiertem Reinigungsmittel. Das also war das Revier von Ledoux. Hier in den mehrstöckigen Mietshäusern im 10. Arrondissement legte er sich auf die Lauer, hier in diesem Bezirk, der so unauffällig war wie Ledoux selbst. Hier schrieen die Kinder bei der Geburt nicht so laut wie im übrigen Paris und auch die Alten warteten hier auf einen stilleren Tod.
Hier bekam Ledoux was er wollte, auch wenn es wenig war.
Niemand hier schloss seine Wohnung ab, wenn er kurz unten am Briefkasten die Zeitung holte. Warum auch. Wer sollte in dieser Zeit ungesehen ins Haus kommen. An den stillen Ledoux, der sich die Wange am obersten Treppengelände festdrückte, dachte keiner.
Und die wenigen Minuten, die ein verschlafener Bewohner vom vielleicht dritten oder vierten Stock die knarrende Holztreppe nach unten und mit der Zeitung wieder nach oben schnaufte, reichten Ledoux bequem aus, durch die angelehnte Tür zu huschen, das Geld zu nehmen und ungesehen zu verschwinden.
Morgens steckte der Geldbeutel meist noch in einer Jacke oder einer Tasche an der Garderobe. Und wer Stunden später im Bistro sein Geld suchte, der dachte nicht an einen lautlosen Fremden, der bei Tagesanbruch in der Wohnung war. Richter Bret wäre stolz auf Ledoux.
Eine Tür öffnete sich und schlug ins Schloss. Schnelle Schritte auf der Treppe, eine Hand rutschte das Gelände nach unten. Kein Kunde für Ledoux.
Die ersten heimlichen Besuche in einer fremden Wohnung erinnerten Ledoux noch an seine seltenen Treffen mit Frauen.
Beide Male fühlte er sich fremd dort, wo er eindrang.
Und beide Male schaute der andere weg und erinnerte sich später nicht mehr an Ledoux.     
Die laute Vuichard polterte schimpfend und fluchend wie immer die Treppe hinab. Bei ihr hatte Ledoux seinen Stil verfeinert. In ihrer Wohnung hatte er zum ersten Mal den Blick gehoben. Ein dünner Rauchstreifen aus der Küche war damals der Grund gewesen, den sicheren Wohnungsflur zu verlassen und ungeschickt mit dem Ellenbogen ein angekohltes Geschirrtuch von der heißen Herdplatte zu schubsen.
Seitdem verließ er keine Wohnung, ohne nach dem Rechten zu sehen.
Eine Jacke auf dem Boden, eine Uhr, die nachging oder das vergessene Licht im Bad. Wie nachlässig doch Menschen im Allgemeinen waren, die ihre Tür beim Zeitungsholen nicht verschlossen.
Ledoux streckte langsam das schmerzende Bein aus.
Das Stechen war schon vor ein paar Minuten in Taubheit übergegangen, jetzt setzten die Krämpfe ein.
Die Tür von Madame Charisse öffnete sich. Vor einer Woche hatte die gelernte Verkäuferin ihre Arbeit verloren.
Ledoux rüttelte seinen Nebenmann am Fuß.
Rigal hatte niemals Schwierigkeiten, sich in den Treppenhäusern reglos zu verhalten. Er überkreuzte Arme und Beine und schlief nach wenigen Augenblicken ein. Zum Glück schnarchte er nicht, sonst hätte Ledoux ihn nicht gebrauchen können. Dafür bildete sich aber an Rigals linkem Nasenloch bei jedem Ausatmen eine dünne Schleimblase, die zur großen Enttäuschung von Ledoux nie platzte.  
Die Charisse hatte schon den halben Weg nach unten zurückgelegt. Ledoux stieß Rigal noch einmal gegen die Fußsohlen, dann öffneten sich zwei entzündete Augen. Rigal zog sich am Geländer nach oben und klopfte sich die Schuppen von den Schultern. Das abgetragene Jackett war noch ein Erinnerungsstück aus jener Zeit, als sich Rigal sein Geld in einem Großraumbüro mit dem Zurechtbiegen trockener Verwaltungsvorschriften verdiente.
Leise ging Rigal die zwei Stockwerke nach unten und verschwand in der halb offenen Tür.
Auch Ledoux würde nun gleich mit seiner Arbeit beginnen.
Die Charisse klapperte im Erdgeschoss an ihrem Briefkasten.
Jetzt öffnete sich im dritten Stock eine Tür.
Der alte Malebranche, der 57 bei Algier nicht nur sein rechtes Bein verloren hatte, lehnte seinen Stock ans Geländer und schaute durch das Treppenhaus nach unten. Dann schleppte er sich zurück in seine Wohnung. Er war zu gebrechlich, um die Zeitung unten am Briefkasten zu holen. Der Lehrer von nebenan würde sie am frühen Nachmittag vor die Tür legen. Niemals klopfte jemand bei Malebranche.
Ledoux massierte sein schmerzendes Knie. Die Tür war nicht ins Schloss gefallen. Er humpelte die Stufen zur Wohnung von Malebranche hinunter und schlüpfte durch die angelehnte Tür. An der Garderobe lag ein speckiger Ledergeldbeutel, Ledoux holte sich ein paar Münzen heraus und spazierte in die Küche.
Durch die Wohnzimmertür sah er Malebranches Hinterkopf. Der Alte saß in seinem Lehnstuhl. Das Radio lief.
Ledoux schaute sich in der schmalen Küche um. An einem Magnetbrett klemmte unter vielen anderen Zetteln ein Arzttermin für nächste Woche. Ledoux holte den Termin hervor und befestigte ihn gut sichtbar über den anderen Papieren, damit Malebranche die Untersuchung nicht verpasste.
Dann setzte er sich an den Küchentisch und griff nach dem Brief, der dort offen ausgebreitet lag. Malebranche wurde darin über die Feiertage von seinem Sohn eingeladen, der mit seiner Familie in Luz Saint Sauveur lebte. Ledoux nickte. Nach dem jahrelangen Streit musste dies der wichtigste Brief sein, den der Alte in der letzten Zeit erhalten hatte.
Die Küchenuhr zeigte kurz nach halb acht.
Rigal würde noch etwa 20 Minuten bei Madame Charisse benötigen. Am Vortag hatte Ledoux die Anträge auf ihrem Tisch gefunden, aber nicht ausfüllen können. Deshalb schickte er heute Rigal. Aber auch der ehemalige Sachbearbeiter aus dem nationalen französischen Arbeitsamt würde seine Zeit brauchen, sich durch die Formulare zu kämpfen.
Ledoux griff sich das aufgeschlagene Familienalbum, das Malebranche neben den Brief gelegt hatte. Oh bitte, als würde Ledoux die Bilder noch nicht kennen. Der kleine Jean-Baptiste mit Schnuller auf der Krabbeldecke. Er musste wohl in diesem Jahr mit der Schule fertig sein. Und Sophie, der Frechdachs. Mit breitem Grinsen klappte sie einer Ziege die Ohren nach oben. Dahinter grüne Berge.
Das Hochzeitsfoto, lauter strahlende Gesichter.
Ledoux griff in die Tüte mit der Gebäckmischung, die er so gerne mochte und kümmerte sich nicht um die Krümel, die er auf dem Tisch verstreute.
Madame Charisse musste noch eine Weile mit der Zeitung in der Hand auf dem Gehsteig warten, ebenso wie die Handvoll Menschen vor den anderen Mietshäusern, die noch nicht in ihre Wohnungen zurück konnten.
Dann würde Rigal mit gesenktem Kopf an ihr vorbei schleichen und die Charisse würde in die andere Richtung sehen.
Im Radio lief der Libertango, gespielt nur mit einem Akkordeon. Bis in die Küche war zu hören, wie Malebranche den Takt auf der Lehne mit den Fingern klopfte. Ledoux wippte den selben Takt mit dem Fuß. Gleich würde er sich wieder aus der Wohnung schleichen und die Tür hinter sich leise ins Schloss ziehen.
Und der dampfende Kaffee schmeckte nach Zucker und Brot.